Jüdisches Leben in Schwaben. Kultur und Geschichte in der Frühen Neuzeit

Jüdisches Leben in Schwaben. Kultur und Geschichte in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Benigna Schönhagen / Sigrid Hirbodian, Arbeitskreis „Jüdisches Leben in Schwaben“, Eberhard Karls Universität Tübingen; Johannes Kuber, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
hybrid (Weingarten)
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2021 - 03.07.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Miriam Kroiher, Philosophische Fakultät, Fachbereich Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Wissenschaft trifft Praxis: Dieser Leitgedanke zog sich durch die gesamte Tagung. Wissenschaftler:innen aus Geschichte, Kunstgeschichte, Judaistik und Literaturwissenschaft trafen auf Akteur:innen aus acht Gedenkstätten im Südwesten Deutschlands mit dem Ziel, den Austausch und die Vernetzung zu fördern sowie die universitäre Forschung und das Vermitteln vor Ort zu verknüpfen. Virtuell nahmen u.a. Studierende der Universität Tübingen an der Tagung teil, die sich im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts mit dem Thema „Landjudentum in Südwestdeutschland“ beschäftigten.

Wie BENIGNA SCHÖNHAGEN (Tübingen) in der Einführung darlegte, bietet die Frühe Neuzeit als eine Umbruchszeit, in der die Wurzeln des Landjudentums liegen, nach wie vor Forschungsdesiderate und ist außerhalb des universitären Umfelds kaum als eigenständige Epoche der jüdischen Geschichte bekannt. Das Spannungsverhältnis zwischen Koexistenz und Vertreibung bestimmte damals den Alltag jüdischen Lebens. Dieses Spannungsverhältnis blieb auch darüber hinaus ein Paradigma, was sich in den Gedenkstätten widerspiegelt, die mit ihrer Arbeit aber den Bogen bis in die heutige Zeit schlagen. Der Raum Schwaben ist historisch zu definieren und bietet so die Möglichkeit zur vergleichenden Arbeit zwischen dem württembergischen und dem bayrischen Teil Schwabens.

STEFAN LANG (Göppingen) bot einen idealen Einstieg in die Umbruchsituation jüdischen Lebens in dem territorial stark zersplitterten, zudem konfessionell gespaltenen frühneuzeitlichen Schwaben. Nach den zahlreichen Vertreibungen im 14. und 15. Jahrhundert war das 16. Jahrhundert eine Wendezeit, in der sich die Juden verstärkt politisch zusammenschlossen und ein neues, auch kulturelles, Zentrum in Günzburg entstand. Einen erneuten Einschnitt bildete der Dreißigjährige Krieg. Für alle Phasen betonte Lang die Rolle der Juden als Akteure in der Politik. So handelten sie die Bedingungen ihrer Ansiedlung sowie ihre Rechte in der Regel mit aus; häufig nutzten sie zudem den Weg vor das Kaiserliche Hofgericht in Rottweil.

Auf den Handlungsspielraum der Juden kam auch SABINE ULLMANN (Eichstätt) in ihrer Darstellung der jüdischen Siedlungsmuster in der Markgrafschaft Burgau zu sprechen. Sie stellte heraus, dass neben der Bereitschaft der Herrschaften zur Siedlungsgenehmigung – aufgrund miteinander konkurrierender Herrschaftsrechte siedelten Juden vor allem in Territorien mit Kleinstherrschaften – Juden aktiv die Siedlungskarte mitgestalteten. Als besonders relevant erwiesen sich dabei familiäre Netzwerke, während die Frage nach der Rolle des Wissens und der innerjüdischen Kommunikation über Siedlungsfragen noch zu klären seien. Eine weitere Rolle spielten die christlichen Dorfgemeinschaften, die vor allem bei den frühen Ansiedlungen im 16. Jahrhundert meist mit Abwehr reagierten. Für die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs machte Ullmann eine durch ökonomische Motive und die demographische Krise, aber auch das Zurücktreten antijüdischer Ressentiments bedingte Änderung der Siedlungsstruktur aus: Statt zahlreicher temporärer Siedlungen mit meist wenigen Familien kam es nun zu deutlicher konzentrierten, mitgliederstärkeren Siedlungen. Für die weitere Forschung sieht Ullmann deshalb die Notwendigkeit, die Interessen und Partizipationsräume der jüdischen Akteur:innen vertieft zu betrachten.

MAXIMILIAN GRIMM (Eichstätt) stellte am Beispiel der Ballei Franken den Judenschutz in der Verwaltungspraxis des Deutschen Ordens vor – ein Desiderat in der bisherigen Forschung. Ähnlich wie in vielen anderen jüdischen Siedlungsräumen handelte es sich auch beim Gebiet des Deutschen Ordens um kein geschlossenes Territorium. Zudem war es von der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Verwaltungseinheiten mit den Nachbarterritorien geprägt. Am Beispiel des Rabbiners Bloch aus Lauchheim, der nach dem Verlust seines Schutzes zunächst Aufnahme im Nachbarterritorium Oettingen-Baldern fand, jedoch nach der Rückkehr nach Lauchheim mit jenem wegen Zahlungsfragen in Konflikt geriet, zeigte Grimm auf, welche Instanzen und Personen auf welche Weise am Judenschutz beteiligt waren. Insgesamt konstatierte er für den Deutschen Orden eine stark situative Prägung der Judenschutzpraxis, da die Zuständigkeiten nicht eindeutig definiert waren. Der Dualismus zwischen Hochmeistertum und Ballei spiegelte sich auch bei Fragen des Judenschutzes wider.

Einen innerjüdischen Blick auf das Territorium der Tagung warf LUCIA RASPE (Frankfurt am Main) mit der Frage nach der Medinat Schwaben, der sich in der Forschung bisher vor allem Stefan Rohrbacher und Daniel Cohen gewidmet haben. Am Beispiel des Druckers Chaim Schachor wies Raspe nach, dass die von ihm verbreiteten slichots auch nach der Auflösung der Augsburger Gemeinde die Pflege eines spezifischen liturgischen Brauchtums in Schwaben belegen. Sie vermutet, dass die Gemeinden auf dem Land ihre Bindung und Orientierung an die alten religiösen Zentren auch nach den Ausweisungen aus diesen über die gesamte Frühe Neuzeit beibehielten.

NAOMI FEUCHTWANGER-SARIG (Tel Aviv) näherte sich der Medinat Schwaben mit einer Untersuchung der Nürnberger Sammelhandschrift Hs. 7058 aus materieller Perspektive. Die Themenauswahl im Vergleich mit anderen Minhagim-Büchern sowie die Konzentration auf männliche Figuren, die aufwendige Ausstattung und die verwendeten heraldischen Symbole ließen sie vermuten, dass es sich um ein Hochzeitsgeschenk eines männlichen Mitglieds der hochangesehenen Familie Ulmo-Günzburg an einen Sohn handelt.

ANNETTE WEBER (Heidelberg) fragte nach der Wahrnehmung jüdischer Bräuche und des dabei verwendeten Kultgeräts durch die christliche Umgebung auf dem Land. An einem Beispiel aus Neidenstein im bisher wenig erforschten Kraichgau zeigte sie, dass bei den christlichen Nachbarn durchaus gute Kenntnisse dazu vorhanden waren. Dennoch sieht Weber das Zusammenleben in den Dorfgemeinschaften eher als ein Nebeneinander denn ein Miteinander. Nichtsdestotrotz entwickelten sich im Laufe der Jahrhunderte selbstbewusste jüdische Gemeinden, wie Weber unter anderem an den kostbaren Synagogenausstattungen verdeutlichte. Die anschließende Diskussion warf die Frage nach dem Begriff „Nebeneinander“ auf, der eben nicht als ein Zustand ohne Verflechtung verstanden werden dürfe.

NATHANJA HÜTTENMEISTER (Essen) rückte die jüdischen Friedhöfe als Quellen für die Frühe Neuzeit in den Blick. In den neuen Ansiedlungen war die Frage nach einer Grabstätte normalerweise eines der ersten Anliegen der Gemeinden. Deren geringe Größe führte jedoch meist zur Anlage von sogenannten Verbandsfriedhöfen, die von mehreren jüdischen Gemeinden gemeinsam genutzt wurden. Dort entwickelten sich regionale Stile in der Grabgestaltung mit Symbolen, Eulogien und der Anordnung untereinander, die Aussagen über den Wandel an Werten und Einstellungen und Aufschlüsse über soziale Netzwerke ermöglichen.

NICOLA WENGE (Ulm) führte mit einem Gesamtüberblick in die Arbeit der Gedenkstätten ein. Sie beschrieb die nach der „doppelten Auslöschung“ (Utz Jeggle) jüdischen Lebens in der Schoa und im Verdrängen der Nachkriegsgesellschaft erst in den 1980er-Jahren entstandenen Gedenkstätten als heute multifunktionale Orte des Gedenkens, des musealen Bewahrens und der pädagogischen Vermittlung. In einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft seien sie vor die Frage gestellt, wie sie nicht nur den Holocaust, sondern die gesamte vielfältige jüdische Geschichte nachhaltig und mit Bezug zur Gegenwart vermitteln können. Die Erinnerung an die NS-Zeit sei notwendiger als jemals zuvor, wobei es sowohl die positiven Beispiele des Zusammenlebens als auch den Antisemitismus klar zu benennen gelte. Weiterzuentwickeln seien insbesondere die Digitalisierung der Angebote, die sorgfältige Auswertung der vorhandenen Quellen, die Vernetzung der Gedenkstätten untereinander und die Kooperation mit der universitären Forschung.

Die anschließende Vorstellung der Gedenkstätten erfolgte im Format eines World Cafés, das es allen Teilnehmer:innen ermöglichte, die jeweilige Präsentation intensiv zu diskutieren. Gemeinsam ist allen der Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Leben und Vernichtung. Neben Überlegungen zum Miteinander und dessen Repräsentation standen bei den Gesprächen mit den Gedenkstättenvertreter:innen Fragen zur thematischen Schwerpunktsetzung, zur Einbettung in die allgemeine Geschichte sowie zu den Zukunftsperspektiven im Mittelpunkt.

Besonders anschaulich werden Aspekte des Miteinanders im Jüdischen Museum Göppingen-Jebenhausen (Domink G. Sieber) thematisiert. Bereits der Museumsort, eine ehemalige evangelische Kirche, visualisiert das einstige Zusammenleben. Denn Gestühl und Leuchter bekam die Kirchengemeinde von der 1899 aufgelösten jüdischen Gemeinde geschenkt. Das Museum zur Geschichte von Juden und Christen in Laupheim (Michael Niemetz) widmet sich explizit dem Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit seit der Gründung der dortigen jüdischen Gemeinde im 18. Jahrhundert. Auch bei der Dauerausstellung und dem Veranstaltungsprogramm der Initiative Alte Synagoge Hechingen (Benedict von Bremen) spielt die Frage des Miteinanders eine zentrale Rolle. Zunächst nur als jüdisch-christlicher Begegnungsort gedacht, wird sie heute interreligiös genutzt. Das Jüdische Museum Gailingen (Joachim Klose / Sarah Schwab) arbeitet stark mit topographischer Erinnerung – gegenüber dem Museum befindet sich der Platz der zerstörten Synagoge, der bewusst als Leerstelle gestaltet ist.

Dass die Erinnerungskultur vor allem in kleinen Orten häufig auf der Initiative einzelner, oft Zugezogener ruht, zeigte das Beispiel des Rabbinatsmuseum Braunsbach (Elisabeth M. Quirbach / Hans K. Schulz). Überall wich anfängliche Skepsis und Ablehnung im Lauf der Zeit breiter Akzeptanz. So auch in der Gedenkstätte Synagoge Baisingen (Karlheinz Geppert), deren fortschrittliches Renovierungskonzept die Brüche und Narben der Geschichte zeigt und heute nach anfänglicher Ablehnung vielfach Nachahmung gefunden hat. Auch für die Initiative Juden in Buchau (Charlotte Mayenberger) lässt sich ein Wandel in der Haltung der Einwohner:innen feststellen. Die Vorstellung der Genealogischen Wissensbank zu Jüdischen Familien in Schwaben (Andrea Dettling) und des Gedenkstättenverbunds Neckar-Alb (Benedict von Bremen) zeigte schließlich neue Wege in der Gedenkstättenarbeit auf.

Deutlich wurde, dass alle ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen vor Nachwuchsproblemen stehen und einer stärkeren Professionalisierung und Vernetzung bedürfen. Denn die Erwartungen an die Ausstellungen und ihre mediale Ausstattung steigen, während den Gedenkstätten Nachwuchs und teils auch Knowhow fehlen. Hier wären Kooperationen mit universitären Einrichtungen wünschenswert – sowohl für die Nachwuchsfindung als auch für den Wissenserwerb.

Übereinstimmung bestand auch darin, dass das jüdische Leben in der Frühen Neuzeit von den Gedenkstätten noch zu entdecken ist. Die Tagung ergab spannende Ansätze und Möglichkeiten zur Kooperation und eröffnete konkrete Zukunftsperspektiven für eine Fortsetzung der so eminent wichtigen Arbeit der Gedenkstätten.

Abgerundet wurde die Konferenz mit zwei Abendveranstaltungen. Einblicke in die Vielfalt aktuellen jüdische Lebens in Deutschland boten die Vorstellung des Projekts „Meet a Jew“ (David Holinstat / Marat Schlafstein) sowie das anschließende Podiumsgespräch unter der Leitung des Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, Michael Blume, mit der Vorsitzenden der Jüdischen Studierendenunion Württemberg, Hanna Veiler, und dem Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, Rami Suliman. Die zweite Abendveranstaltung bestritt das Ensemble Simkhat Hanefesh. Seine musikalisch umgesetzten Reiseerinnerungen des Abraham Levie (1719–1723) „Eine Reise durch Aschkenas“ führten die innerjüdische Perspektive auf das Leben in Aschkenas großartig vor Augen und Ohren. So trafen Wissenschaft und Praxis nicht nur im Austausch zu Forschungs- und Vermittlungsfragen aufeinander, sondern auch im kulturellen Begleitprogramm.

Konferenzübersicht:

Johannes Kuber (Stuttgart) / Benigna Schönhagen (Tübingen): Begrüßung und Einführung

Moderation: Christoph Cluse (Trier)

Stefan Lang (Göppingen): Jüdisches Leben und Judenpolitik im frühneuzeitlichen Schwaben

Lucia Raspe (Frankfurt am Main): Nach den Vertreibungen. Die Medinat Schwaben in jüdischen Quellen

Jüdisches Leben heute

Vorstellung des Projekts "Meet a Jew“ (David Holinstat / Marat Schlafstein)

Abendempfang des baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten Michael Blume, Staatsministerium Baden-Württemberg

Moderation: Johannes Kuber (Stuttgart)

Nicola Wenige (Ulm): Jüdisches Leben und Verfolgungsgeschichte in der Darstellung schwäbischer Gedenkstätten. Rückblick, Stand und Perspektiven

World Cafés

Jüdisches Museum Gailingen und Verein für jüdische Geschichte Gailingen (Joachim Klose / Sarah Schwab)

Initiative "Juden in Buchau" (Charlotte Mayenberger)

Gedenkstätte Synagoge Baisingen (Karlheinz Geppert)

Jüdisches Museum Göppingen (Dominik Gerd Sieber)

Museum zur Geschichte von Christen und Juden Laupheim (Michael Niemetz)

Rabbinatsmuseum Braunsbach (Elisabeth M. Quirbach / Hans K. Schulz)

Alte Synagoge Hechingen und Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb (Benedict von Bremen)

Jüdische Familien in Schwaben, Genealogische Wissensdatenbank (Andrea Dettling)

Benigna Schönhagen (Tübingen) / Nicola Wenige (Ulm): Feedback-Runde

Moderation: Benigna Schönhagen (Tübingen)

Naomi Feuchtwanger-Sarig (Tel Aviv): Unravelling Ownership. The Nuremberg Miscellany and its Swabian Backround

Annette Weber (Heidelberg): Miteinander und Nebeneinander in Alltag und Festtag auf dem Land. Die Gestaltung jüdischer Rituale unter christlichen Nachbarn

Konzert des Ensembles simkhat hanefesh: Eine Reise durch Aschkenas. Die Fahrten des Abraham Levi, 1719–1723

Moderation: Sigrid Hirbodian (Tübingen)

Sabine Ullmann (Eichstätt): Die Markgrafschaft Burgau als jüdische Siedlungslandschaft in der Frühen Neuzeit

Maximilian Grimm (Eichstätt): Der Deutsche Orden als Schutzherr der Juden Schwabens im 17. und 18. Jahrhundert. „Judenschutz“ in der Verwaltungspraxis

Nathanja Hüttenmeister (Essen): Jüdische Friedhöfe in Schwaben. Geschichte – Charakteristika – Erforschung

Abschlussdiskussion